Freitag, 22. Januar 2010

Vogelfrei – ein literarischer Versuch

Seinen Hut hängte er an den Kleiderständer, seine Aktentasche warf er mit schonender Wucht darunter, holte sich ein kaltes Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich damit auf den Balkon. Von dort aus beobachtete er, wie er es fast täglich tat, die Vögel, die sich in den Bäumen tummelten und genoss dazu Schluck für Schluck vom kalten Alkohol. An jenem Tag war der Genuss besonders intensiv, denn er wusste, er würde die Vögel zum letzten Mal sehen müssen. Seinen langweiligen Bürojob hatte er, wie seine Aktentasche schonend wuchtig hingeschmissen und war soeben für lange Zeit von der Arbeit nach Hause gekehrt. Von nun an war er frei wie ein Vogel. Den ersten Schritt in seine Unabhängigkeit schenkte ihm vor einigen Monaten seine Frau, indem sie ihm mitteilte, dass sie sich scheiden lassen wolle, weil sie einen anderen, einen besseren Mann, kennen gelernt habe und nun endlich wagte er den zweiten Schritt Richtung Unabhängigkeit und sagte auch seinem Chef, dass er etwas anderes, etwas besseres mit seinem Leben vorhabe. Nichts hielt ihn mehr hier in dieser öden Gegend, seine Gedanken waren schon lange in der Karibik angekommen, die er von den Ferien mit seiner Frau so gut kannte und so sehr liebte und wo er plante das Ende seines Lebens zu leben, statt dieses abzuwarten.

Kurze Zeit später steht er am Flughafen übervoll mit Koffern und Vorfreude bepackt, doch ebenso kurze Zeit später, kaum in der Karibik angekommen, erreichte ihn ein Telegramm, was ihn nicht minder erstaunte, da er keine Erklärung für diese dringende Kontaktaufnahme sah, aber es gab sie.


Worüber er im Telegramm unterrichtet wurde, kann der Leser sich gerne aussuchen, die Möglichkeiten sind zahlreich:

Sein Bruder ist in der Schweiz erkrankt und benötigt eine Nierenspende.

Sein Vater ist verstorben und setzt ihn als rechtmässigen Erben des Familienunternehmens ein.

Seine Frau ist schwanger, das Kind noch von ihm.

Der Beweggrund ist an dieser Stelle unwichtig. Von Belang ist nur, dass seine Erwartung an die Freiheit der Vergangenheit zum Frass vorgeworfen wurde und er ihrem Ruf folgen wird, zurück in seine Heimat, zurück in die Abhängigkeit, die er nie hinter sich gelassen hat, denn er ist vogelfrei.

Diese Geschichte, ist eigentlich meine Geschichte, doch könnte sie ebenso gut zu deiner Geschichte werden, darum steht sie hier. Hätte er weder geliebt, noch wäre er je geliebt worden, könnte diese Geschichte ein sonniges Ende finden, doch ob dies das glücklichere Ende wäre? Open End.


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