Mittwoch, 1. September 2010

maybebaby – oder: die Importance of Being Earnest

Maybebaby: Populär Englisch und ungeniert locker, alles was die Frau von heute braucht, um über ihre Umstände aufgeklärt zu werden. Nun ja, oder sagen wir besser Mädchen oder sogar maybe Baby? Das Zielpublikum ist klar: Nicht werdende Mütter, sondern werdende Frauen, Teenies - Sexualleben ausgezeichnet, Verhütung mangelhaft, Charakter durchgefallen.

Nein, dieser Beitrag handelt nicht von einer Übersexualisierung der Jugend, nicht von zu verteufelnder Frühreife und schon gar nicht von fehlender Aufklärung. Er handelt vom Mangel an Ernsthaftigkeit. Einen Schwangerschaftstest als trendigen Lifestyle für Teenies anzupreisen, ist doch, mir fehlen die Worte, um es anders zu sagen, schlicht wahnsinnig. Ich brauche hier kaum ausführlich die eigentliche Relevanz (un)gewollter Schwangerschaften aufzuzeigen, weder emotional noch sozial, damit ich berechtigt die Frage stellen kann: Wie schafft Frau es, ihren Körper und sich selbst so wenig ernst zu nehmen, dass sie sich in ungeniert lockerem Englisch fragen kann: Maybe baby? Ganz einfach: Was mit ihrem Körper ist, kann man ja wegmachen, etwas dagegen machen, alles gleich machen. Warum Ernst, wenn doch alle Dinge dem Dienst der Ästhetik unterworfen werden können.

Doch nicht nur der Name, sondern auch sein Verkaufsstandort karikiert unsere Zeit:

Keiner sieht hin, keiner hört zu, keiner sagt etwas.

Nur das Mädchen, hoffentlich ihr Freund und - maybe Baby.

Doch keiner Frau, die einen Schwangerschaftstest unter vollkommener Diskretion kaufen will, ist geholfen, wenn sie das tatsächlich kann. Obwohl die Wälfler Diagnostics AG davon überzeugt ist: Mit den hochwertigen Selbsttestern leisten wir einen wichtigen Beitrag zur Stärkung des Wohlbefindens und zur Verbesserung der Lebensqualität.

Die Hemmungen die bei einem üblichen Kauf überwunden werden müssen, sind zwar lästig, aber sinnvoll: Sie halten die Relevanz der Situation vor Augen, erinnern daran, dass nicht gespielt, sondern gelebt wird – ernsthaft. Hemmungen sind da, um überwunden und nicht umgangen zu werden.
Und wenn es schliesslich heisst: maybe Baby! Wie soll da eine werdende Frau und zugleich werdende Mutter den Mut aufbringen, die emotionale und soziale Tragweite einer ungewollten Schwangerschaft auszustehen (selbst wenn es nur darum geht, die Abtreibung zu beichten!), wenn sie nicht einmal einer erstaunten Apothekerin in die Augen zu blicken gelernt hat, da es von ihr nie gefordert wurde? Wenn jungen Frauen suggeriert wird, dass es sie nichts kostet aus sich und in sich und mit sich zu machen, was man will, wie soll eine junge Frau sich da selber noch ernst nehmen können? Ein Kinderspiel!
Ungewollte Schwangerschaften sind kein ästhetisches Manko, das hinter verschlossener Badezimmertüre behoben werden sollte, sondern eine ernsthafte Aufgabe. Leider aber sind keinerlei Hemmungen vorhanden, diese Aufgabe auf ein solch fragwürdiges Niveau zu bringen. Was meiner Ansicht nach daher rührt, dass wir es schon lange geschafft haben, die Frau in ihrer äusseren Erscheinung nicht mehr ernst bzw. aufrichtig zu nehmen, sondern einzig in den Dienst der kontrollierbaren Ästhetik stellen. Kinderleicht.

Samstag, 14. August 2010

Wie viel kostet eine Plastikfolie?

Wahrig oder Duden? Wahrig oder Duden? Wahrig oder… Vor zwei Tagen hatte ich diese Grundsatzentscheidung zu fällen und wie ich solche Probleme zu lösen pflege, um mich nicht durch banale, einmal gefällte Grundsatzentscheidungen einzuengen: Wörterbuch von Wahrig und Rechtschreibung von Duden.
Um meine Sünde, mich meinem selbstauferlegten Bücherkaufverbot widersetzt zu haben, rationalisierend abzuschwächen, entscheide ich mich nach langem hin und her wenigstens für einen Duden ohne CD-ROM: Brauche ich nicht und kann ich auch nicht brauchen, da mein freier Speicherplatz ohnehin vom Aussterben bedroht ist, lautet das Fazit.

Doch damit der Sünde nicht genug. Einen ausgepackten Duden bezahlt, dafür einen zugeschweissten eingepackt, begebe ich mich nach Hause. Dort, den Duden zum Einsatz schon wieder ausgepackt, merke ich: Diese Plastikfolie ist zwanzig Franken wert, denn zwischen ihr und dem Buch versteckt sich doch noch eine CD-ROM! Kurze Freude gefolgt von der unausweichlichen Frage:

Was mache ich nun mit einer CD-ROM - very nice to have – die ich aber weder brauche noch brauchen kann, und nun doch, nachdem ich so lange mit der Kaufentscheidung haderte, weil ich weder Bücher und schon gar nicht CD-ROMs kaufen sollte, (man erinnere sich des letzten Eintrags) und schon überhaupt gar nicht solche, die ich, um mich zu wiederholen: Weder brauche noch brauchen kann, und doch wirklich ‚v e r y nice to have', auf meinen Knien liegt, kostenlos, ja selbst gewissenlos, weil ich bis vor Kurzem ja nicht einmal wusste, dass ich sie habe?? - Oder besser gesagt, geklaut habe.

Behalten oder zurück bringen? Oder behalten und zurück bringen? (Das würde sogar funktionieren!) Wirklich? Oder merkt ‚man' das? Okay.. keine besonders intelligente Idee.

Wem ist das nicht auch schon passiert: Man trifft sich, hört zusammen Musik, packt den Laptop wieder ein und mit ihm die fremde CD. Die Frage, ob sich die Frage stellt, ob man die CD zurück bringt, ist, so glaube ich, überflüssig. (Allenfalls stellt sich die Frage, ob ich sie in diesem Falle tatsächlich behalte und zurück bringe, aber dies nur by the way.)

Aber muss ich auch dem Herrn füssli eine CD wieder bringen, die absolut unbeabsichtigt und unbemerkt zu meinem Eigentum geraten ist? Tue ich damit jemandem weh? Kann man dies überhaupt stehlen nennen?

Das Problem stellt sich durch die Abstraktion, in der wir uns bewegen. Weder die Hersteller noch der Herr füssli und auch nicht die Mitarbeiter haben für mich den Charakter einer realen Person. Sie existieren bloss als abstrakte Grössen in einem Denkkonstrukt und sind bestenfalls lebende Marionetten in einer funktionierenden Struktur. Aber keiner Person liegt diese CD-ROM am Herzen, niemand wird sie tatsächlich als realen Gegenstand vermissen, wie die Person ihre CD in meinem Laptop. Zwar ist die CD-ROM rechtlich betrachtet jemandes Eigentum, doch emotional gesehen nicht. Sie existiert für den Besitzer allenfalls als Zahl in irgendeiner Liste.

Hierzu Erich Fromm in der ‚Pathologie der Normalität': In unserem System ist ein Prozess im Gange, für den ich gerne ein Wort prägen möchte, […] ich möchte vom Prozess der Abstraktion sprechen und verstehe darunter, dass man etwas abstrakt zu machen versucht, statt es in seiner Gegenständlichkeit und Konkretheit zu belassen. Auf Grund unserer Produktionsweise und auf Grund der Art, wie unsere Wirtschaft funktioniert, sind wir es gewohnt, Gegenstände in erster Linie in ihren abstrakten statt in ihren konkret-gegenständlichen Formen wahrzunehmen.

Dies beschränkt sich allerdings nicht nur auf Waren, sondern weitet sich aus auf Menschen: Man vergisst und ignoriert beim Abstrahieren alle seine [des Menschen] konkrete Eigenschaften. Man spricht von ihm als einem Schuhfabrikanten, wie wenn dies sein Sein gewesen wäre.

Ergänzend hierzu folgende Aussage aus ‚Psychoanalyse und Ethik' von E. Fromm: Unser moralisches Problem ist die Gleichgültigkeit des Menschen sich selbst gegenüber. Wir haben den Sinn für die Bedeutung und Einzigartigkeit des Individuums verloren und haben uns zu Werkzeugen für Zwecke gemacht, die ausserhalb unseres Ichs liegen. […] Wir sind zu Gegenständen geworden und auch unsere Nächsten sind für uns Gegenstände. […] Wir haben kein Gewissen im humanistischen Sinn, denn wir wagen uns nicht auf unsere eigene Urteilsfähigkeit zu verlassen.

Diese beiden Ausführungen miteinander verbindend, erhalten wir folgendes Fazit: Da ich die CD-ROM nur als abstrakten Gegenstand aus einem unpersönlichen Warenhaus mitnehme und den Verkäufer nur um den Tauschwert, nicht aber um den Gebrauchswert dieses Gegenstandes bringe - sie damit nicht im emotionalen, sondern wiederum nur im abstrakten Sinne als Besitz bezeichnet werden kann – kann ich sie im humanistischen Sinne auch nicht stehlen und bin somit für den unmoralischen Charakter meiner Handlung emotional unempfänglich. Also kann ich gar nicht anders als die CD-ROM zu behalten! – Würde es nicht all diese Überlegungen nach sich ziehen und hätte ich den Duden nicht gebraucht, um an meinen Texten für den Förderverein Weltethos zu arbeiten, dann hätte ich vielleicht wirklich nicht anders gekonnt, als sie zu behalten.


Zurück bleibt ein Duden, freier Speicherplatz, die Frage, ob nun ein Weltethos das Potenzial in sich birgt, den Menschen aus dieser Entfremdung zu führen oder ob der vorgängige Weg aus der Entfremdung die unausweichliche Voraussetzung für ein humanistisches und nicht autoritär funktionierendes Weltethos ist, und die Feststellung, mich beim nächsten Mal besser für zweimal Wahrig zu entscheiden, dann wäre mir all dies erspart geblieben.

Sonntag, 1. August 2010

Flucht aus der Langeweile

Das Bestehen meines Blogs jährt sich und damit auch das Ereignis, das mich vor einem Jahr zum Start dieses Weblogs bewegte: der Erste August und mein jährlicher Feuerwerksverkauf. Schon wieder habe ich mich gezwungen, mir die Beine in den Bauch zu stehen und in der Langeweile auszuharren, um mein letzes Feriengeld zu verdienen. Vieles hat sich seither nicht geändert: Mein Unvermögen am ästhetischen Sinn von Feuerwerk teilzuhaben, die Ausreden dafür, warum familie eben doch Feuerwerk kauft und die Rechtfertigungen warum sie es nicht tut. Auch nicht der Grad der Langeweile, deren beinahe pathologischen Charakter mir erst nach der Lektüre von Erich Fromms Publikation über die Pathologie der Normalität bewusst wurde (Das Leben hört auf, im wahren Sinne belebt zu sein. Langeweile ist meiner Meinung nach eines der grössten Übel, die den Menschen befallen können.). In dieser einen Woche ertrage ich so viel Langeweile, wie sonst während dem ganzen Jahr nicht. Alle Warnhinweise der Feuerwerkskörper kenne ich auswendig, ebenfalls das ganze Gartenartikel Sortiment, die Giftklasse jedes Spritzmittels, die Anzahl der Kacheln auf dem Boden, bis jeder Gedanke, selbst die kleinste Regung im Kopf, verstummt… Und vor allem bekomme ich auch die volle Ladung Langeweile der Leute ab, die nicht nur eine Woche, sondern wie sich vermuten lässt, den Hauptteil ihres Lebens mit eben dieser in trauter Zweisamkeit verbringen. Die anhaltende pathologische Form der Langeweile eben. Menschen, die ihr Leben dem täglichen Einkauf widmen, ihre sozialen Beziehungen auf die Gespräche mit der deutschen Kioskverkäuferin bauen und dann, in dieser Stimmung mich erblicken -das verlorene, unterbeschäftigte Migrosmädchen, das dazu verdammt wurde, die gefährlichen Knallkörper vor den bösen Rauchern zu beschützen- und die Gelegenheit ergreifen. Eine Kostprobe will ich nicht vorenthalten:


"Wenn Sie jung sind, können Sie die Welt erobern! Sie gehört Ihnen ganz allein!" Sie, die Kundin von der ich aus Kassierinnenzeiten einzig weiss, dass Pouletschenkel ihre Leibspeise sind, erzählt mir, wie sie ihr Leben nebst dem Kochen füllt. Sie sei alt, alles sei für sie zum Stress geworden, immer wieder betont sie, wie verbraucht sie sei, unglaublich verbraucht von der täglichen Arbeit zwischen Sonnenauf- und Sonnenuntergang, neununddreissig Jahre lang habe sie sich verbraucht. A l l e s an ihr sei verbraucht. Termine: Stress; Einkaufen: Stress; selbst Ferien: Stress! "Geniessen Sie die jungen Jahre!", holt sie noch einmal aus, um mich gleich anschliessend zu fragen, was ich machen werde, nachdem ich ihr von meinem Final hier in der Migros und meinem Umzug erzählt habe. "Ah, das ist toll!" Ist ihre Reaktion, ihre Augen glänzen, vor Altersneid, so scheint mir und ihre Worte bestätigen es sogleich: "Wenn Sie jung sind, können Sie die Welt erobern!" Es sei eine typische Alterskrankheit, in jungen Jahren habe sie nie Probleme mit Stress gehabt, "aber jetzt", sie schüttelt bekümmert den Kopf, "aber jetzt", wiederholt sie um darauf vom eigenen Schweigen geschluckt zu werden, "ist sie verbraucht" beende ich ihre Worte in Gedanken. Froh sei sie, dass sie und ihre Katze gesund seien, ergänzt sie und findet in ein selbstbestärkendes Lächeln zurück. "Gesund?!!", versuche ich mich zu beherrschen, dies nur zu denken und boxe meine Gedanken in eine angebrachte Richtung: "Ja die Gesundheit ist das Wichtigste." Sie geht ab, verschwindet in der Drehtür, die sie in den Laden schleust und lässt mich zurück mit der Präsenz einer Grundfrage, die mich nun schon seit einigen Jahren begleitet:


Macht unsere Gesellschaft uns Alterskrank? Nicht das Leben, Krankheit, Tod, missglückte Beziehungen (laut Freud alles äussere Kräfte, die den Menschen für immer am wahren Glück hindern) sondern die Arbeit ist es, die sie verbraucht hat, die Arbeit -unser selbstgewähltes Los.

Ja, selbstgewählt.

Unsere Gesellschaft funktioniert, dank uns.

Auch dies kann ganz leicht von meinem Plätzchen hinter den explosiven Knallkörpern beobachtet werden: Ein zierliches blondes Mädchen entdeckt die riesigen Vulkane, wobei ihre Augen innert Sekunden auf dieselbe Grösse anwachsen und vor Freude Feuer speien. Ihre Mutter erblickt die Gefahr, läuft schnurgerade auf die Hand ihrer Tochter zu und versucht sie, mit dem wartenden Einkauf lockend, weg zu zehren. Doch die Tochter ist schlauer, sie sieht das grosse "A-Wort" von orangeleuchtender Farbe umrandet: "Aber Mami, es isch aktion!, Häsch gseh, aktion, Maaaamiii!" Schliesslich wurden zwei Packungen von vier leuchtenden Augen nach Hause getragen.
Dank Aktion mit Cumuluspunkten versüsst scheint es plötzlich lohnenswert die letzen Tage Arbeit in Rauch aufgehen zu lassen. ("Ja natürlich gibt es auf Feuerwerk auch Märkli, wenn sie möchten!") (Und ja natürlich waren es wieder dieselben Aktionen wie in den Jahren zuvor.)

Was ich damit sagen will: Dies alles ist ein subtiler Ausdruck hiervon:

Erich Fromm zu folgen, existiert eine Art Gesellschaftscharakter, der die psychischen Energien der Individuen in eine bestimmte Richtung lenkt oder kurz, dafür sorgt, dass die Menschen das tun wollen, was sie tun müssen.

Selbstverständlich wird am Ersten August die Schweiz ordentlich gefeiert und selbstverständlich wird am zweiten August wieder pünktlich zur Arbeit erschienen. Selbstverständlich selbstgewählt! Wir sind alle absolut funktionierende Glieder dieser Gesellschaft. Wir sind alle sowas von normal! Wir funktionieren! Es fragt sich nur zu welchem Preis? Natürlich zum Aktionspreis!

Die alte Frau, als die sie sich selbst bezeichnet hat, kehrt nach einigen Minuten aus dem Laden zurück mit einem Zvieri für mich. Zwei grosse weisse, mit Kassenzettel bestückte Pfirsiche, wie es sich fürs Personal gehört. Sie bedankt sich fürs Gespräch und nachdem sie sich vergewissert hat, mich nicht zum letzten Mal gesehen zu haben, verabschiedet sie sich mit einem freundschaftlichen "bis bald."

Diesen Tag habe ich ihr gerettet, sie etwas aus ihrer Langeweile geholt und diesen Tag hat auch sie mir gerettet, weil ich den Rest des Nachmittags damit verbrachte, diesen längst überfälligen Blogbeitrag auf Kassenzettel (siehe Bild) zu notieren. Wenn wir nicht mehr funktionieren, funktioniert es dann doch noch irgendwie.




Aber solange wir funktionieren, werden wir uns noch vielmals überwinden uns zehn Stunden am Tag mit langweiligem Feuerwerkverkauf zu quälen, ohne dabei irgendwelche moralischen Zuckungen zu machen. Und zu welchem Preis: Natürlich auch das zum Aktionspreis! Denn viel mehr werde ich die Migros kaum kosten.


Nun ja, allerdings nicht mehr lange. Gestern, Samstag, als der letze Vulkan seinem ehrenwerten Besitzer verkauft wurde, machte ich endgültig einen Abgang aus der Migrosarbeit, bei der meine Hirnzellen manchmal wörtlichst den Geist aufgegeben haben. Übrigens hat mir ein Kunde am letzten Tag, als ich ihn nach der wohlbekannten Karte fragte, mit seiner Bemerkung, die treffender nicht sein könnte, einen tollen Abschied beschert, den ich nicht vorenthalten kann: "Cumuluskarte? Natürlich habe ich eine Cumuluskarte, jeder in der Schweiz hat eine, wahrscheinlich haben hier mehr Menschen eine Cumuluskarte als einen Schweizerpass!" Danke. Bin gespannt wie lange ich in dieser Gesellschaft ohne Charakter was zu essen kriege.

Samstag, 6. März 2010

Mechanisierte Phantasie


Mindestens zehn Mal musste ich heute diese abscheuliche singende Stoff-Osterente anhören, die jeden der mindestens zehn Kunden mit ihrem lächerlichen Gesang und ihren mechanischen Tanzbewegungen zwar in Entzücken zu versetzen vermochte, doch mir mit jedem mal etwas mehr Nerven frass. In der gewohnten Arbeitsroutine Zeit, um mir die folgenden Gedanken zu schenken:


Mechanisierung der Phantasie!
Jedes von sich aus tanzende, singende oder sprechende und wie von Zauberhand zum Leben erweckte Kinderspielzeug ist mehr als alles scheinbar Leblose dem Tod geweiht, herzlos, geistlos, charakterlos und humorlos, weil seine Mechanik ihm den wahren Charakter eines Spielzeugs austreibt, weil sie ihm jegliches spielerische Potential nimmt, das Potential in der kindlichen Phantasie jede denkbare - oder eben nicht nur denk- sondern auch eine nur vorstellbare- Gestalt anzunehmen, die das Kind in ein Spielzeug hinein zu zaubern vermag. Eine singende Ente wird nie zum Eroberer der Unterbettdecke-Welt, nie zum Sieger kindlicher Kriege und nie zum Entdecker ganz neuer Welten, sondern wird stetig dasselbe singende und damit nutzlose Gefiederding bleiben, das es darzustellen verpflichtet ist. Jedes solch "zum Leben erweckte" Spielzeug ist in höchstem Masse eine törichte kindliche Beleidigung!

Wen verwundert es da noch, dass die Drittklässler einer Freundin in ihren Aufsätzen mit dem Titel "mein Phantasieplanet" es gerade mal noch schaffen auf einem ganzen Planeten unbegrenzter Träume die Simpsons zu wahrem Leben zu erwecken, sich ein Haus zu bauen und dieses rundum mit Blumen zu bepflanzen! Ein grosses Pfui auf die Kommerzialisierung der Phantasie!

Es war nachts um drei im Zug, aus Zuständen flüchtend, die mir das gerade verlassene Rohstofflager als menschliche Wiederaufbereitungsanlage für den Rohstoff Mensch verkaufen wollten, als ich mich seit langem wieder einmal an die Frage wagte, wie wohl eine Welt aussehen würde, die in mir keine solche Zustände hervorriefe. Mein einziger nicht wahnsinnig phantasievoller Beschluss war, dass in dieser Welt die Menschen um diese Zeit sicherlich keine Züge bräuchten, sondern schliefen.


Jetzt, dank diesem singenden Gefieder, bin ich wenigstens um einen sinn- wenn auch nicht phantasievolleren Gedanken weiter: Es wäre eine Welt in der wenigstens unsere Kinder noch fähig wären, ihren Phantasieplaneten vollkommen neu zu kreieren. Eine Welt, in der Kinder zumindest in ihrer Phantasie sich auf einen Planeten katapultieren können, auf dem sie sich von Liane zu Liane schwingen, um den grünen Monstern unter dem Sand zu entgehen, wo die Menschen im Wasser schlafen, sich von Steinen ernähren und Fische in den Bäumen nisten. Eine Welt in der wenigstens die kindliche Phantasie noch fliegen kann.


Mit etwas poetischeren Worten:
"[… ja mit einem Blitz, der ihn besonders schön dünkte, obgleich er mehr von seinem Glanz geblendet wurde, als dass er sah, was darin vorging, hatte er diesem verdächtigen Satz noch den zweiten hinzugefügt,] dass wahrscheinlich auch Gott von seiner Welt am liebsten im Conjunctivus potentialis spreche (hic dixerit quispiam = hier könnte einer einwenden..) denn Gott macht die Welt und denkt dabei, es könnte ebensogut anders sein."


Ein Zitat aus Musils Der Mann ohne Eigenschaften, das an dieser Stelle anspornen soll, selbst einmal Gott zu spielen und sich zu überlegen, wie es ebenso gut auch anders sein könnte.

Montag, 1. März 2010

Frau vergleiche

Aufgrund einiger Artikel, die in letzter Zeit im TA und im Magazin erschienen sind, wage ich einmal folgenden Vergleich.

Die allgemeine Meinung meint, dieser Frau fehle es an persönlicher Freiheit:









Das Verhalten von kopftuchtragenden Frauen ist für uns unverständlich, sie lösen in uns ein Gefühl des Entsetzens aus: Warum verbirgt frau sich unter solch offensichtlichen Symbolen der Unterdrückung? Weshalb schränkt sie ihre eigene Freiheit, ihre eigene Persönlichkeit ein, um kulturellen Normen zu entsprechen, um gar gesellschaftlicher Ächtung zu entgehen? Und warum zeigt sie in Gottes Namen ihre Unterdrückung, ihre gesellschaftliche Abhängigkeit so offensichtlich durch das Tragen dieses Schleiers, statt sich zu emanzipieren, zu tragen was ihr gefällt und nicht was von patriarchalischen Frauennormen gefordert wird?!

Ich bin dafür, dieselben Fragen und Forderungen auch an sie zu stellen:


Weil die Antworten nämlich dieselben sind:

Ohne fühle frau sich nackt, nicht ganz weiblich, nicht ganz sie selbst, nur mit, sei sie eine eigenständige Persönlichkeit, eine ganze Person. Anwendbar auf Kopftuch, wie auch auf Make-up.

Natürlich handelt es sich bei beiden Bildern um Extremfälle, doch bei den muslimischen Frauen beschränken wir unsere Kritik ja schon lange nicht mehr nur auf die sogenannten Extremfälle, so müssten wir konsequenterweise uns auch von den Extrembeispielen unseres gesellschaftlichen Schönheitswahns lösen mit allen légere-kopftuchtragenden Frauen die Léger-essenden Frauen ebenso an den Pranger stellen.

Als Selbstverwirklichung und Ausdruck der eigenen Persönlichkeit, Schlüssel zum Erfolg und mehr Lebensfreude wird die Schönheit noch immer gehandelt und dies mit solchem Geschick, dass weder Frau noch Mann bewusst wird, wie sehr die Frau damit unter den Schleier der gesellschaftlichen Unfreiheit gedrückt wird. Wie das Kopftuch bei der muslimischen Frau, wird auch das Köperbewusstsein der westlichen Frau nirgends explizit gefordert, und dennoch ist beides kulturell als Symbol der echten Frau soweit verankert, dass ein unausgesprochenes Gesetzt missachtet, wer sich der scheinheiligen Echtheit widersetzt und beide Frauen werden nicht selten auch mit gesellschaftlicher Ausstossung konfrontiert, sollte sie all zu sehr von der Norm abweichen. Der einzige nennenswerte Unterschied zwischen der Frau mit Kopftuch und der Frau mit den Botoxlippen findet sich wahrscheinlich darin, dass Ersterer physische Gewalt droht, sollte sie sich den Kleidungsnormen widersetzten, während Letztere sich selbst physische Gewalt antut, um den Normen konform zu werden.
Die Vorstellung von der echten westlichen Frau ist noch immer in einer Absolutheit in uns verankert und an ihr Äusseres gebunden, wie es uns eigentlich erschrecken sollte. Leider tut es dies nicht. Denn diese Vorstellungen sind so tief in unsere Muster eingebrannt, dass wir bereit sind, sie als natürlich zu betrachten und sie in ihrer Existenz wahrzunehmen unfähig geworden sind. Die Verhaltensmuster sind soweit natürlich geworden, dass Frauen den Aufdruck "dies ist ohne weitere Bedeutung." auf ihrem Busen präsentieren, nicht ohne Stolz endlich durchschaut zu haben, dass Mann nun mal so funktioniert und gar nichts für, geschweige denn gegen sein Verhalten kann. Die emanzipierte Frau hat heute über diesem männlichen Verhalten zu stehen. Ich glaube aber, dass es falsch, wenn nicht sogar frech ist, die Männer von ihrer Verantwortung freizusprechen und sie in die Abhängigkeit ihrer Triebe zu stellen. (Obwohl Mann diese Entschuldigung auch selber gerne verwendet.) Dass Männer in höchstem Grade dafür verantwortlich sind, wenn Frauen sich ohne Make-up, ohne 90-60-90 Figur, ohne gepflegte Fingernägel, ohne gezupfte Augenbrauen, ohne rasierte Beine, ohne Absatzschuhe und ohne einengende Jeans (um nur eine Auswahl aller physischen Qualen wieder zugeben) nicht als Frauen fühlen, lässt sich einfach beweisen, indem wir uns die Frage beantworten, ob nun die muslimischen Männer oder dessen Frauen die Verursacher sind, wenn Frauen ohne Kopftuch sich nicht mehr wohl fühlen können, und aus der Antwort dann wieder die Parallele ziehen.

Der nächste absolut notwendige Schritt für die weibliche Emanzipation funktioniert nicht ohne die wahrgenommene Verantwortlichkeit der Männer. Das Problem ist, dass allgemein angenommen wird, (weil ironischerweise das die Frauen selbst immer so behaupten) Schönheitsoperationen und Qual-Diäten geschähen auf absolut freiwilliger Basis, ein blauäugiger Glaube an die weibliche Vernunft und die menschliche Wahlfreiheit, doch ich wage hier einmal zu behaupten, dass Frauen die sich die Lippen spritzen lassen, ebenso unfrei handeln, wie Frauen, die ein Kopftuch tragen, doch wurde dieses Verlangen (nicht nur die Norm!) so stark anerzogen, dass Frau selbst den ständigen gesellschaftlichen Druck nicht mehr wahrnehmen kann und davon überzeugt ist aus freien Stücken zu handeln.
Ein Blick, ein kleiner Witz, eine nette Bemerkung ist als einzelne losgelöste Handlung durchaus kein Desaster, doch sie sind die subtilen und somit gefährlichsten Äusserungen falscher Wertemuster unserer Kultur und somit aus Prinzip absolut verwerflich, weil Frau allein deren Wirkung nicht kapieren kann!

Samstag, 6. Februar 2010

Geschlechterdiskrepanzen – eine Selbsterfahrung


Ob biologisch bedingt, ob anerzogen, medial heran gezüchtet oder ob die Kombination aller Faktoren die Diskrepanzen zwischen Mann und Frau herauf beschwören, spielt letzten Endes keine Rolle, denn die Diskrepanzen bestehen, unabhängig ihres Ursprungs. Natürlich lässt sich diese Frage stellen, um einige weitreichendere, grundlegendere Diskussionen zu führen, so zum Beispiel, ob unser Verhalten als Mann oder als Frau biologisch notwendig und damit unumgänglich ist, oder ob wir mit diesem Rollenverhalten unserer eigenen Person Schranken setzten, die unsere Freiheit begrenzen, unsere Empfindungen und Wertungen beeinflussen und unser Verhalten steuern, womit wir also selbst in diesem elementaren Grundverhalten als entweder oder, also als Mann oder Frau, meist ohne Graustufen, nur eine gesellschaftliche Konzeption sind, woraus sich schliessen liesse, dass die Institutionen der Gesellschaft (Familie, Bildung, Medien…) eine fast absolute Macht, eine beinahe vollkommene Steuerungskontrolle über das Individuum haben, womit das Konzept Individualität in sich selbst zerfällt. Dennoch will ich diese Frage hier nicht thematisieren, weil sie einen extrem bitteren Nachgeschmack besitzt, denn wenn man zu beantworten versucht, warum diese Diskrepanzen bestehen, sucht man zwar nur nach einer Erklärung, doch nicht nach einer nüchternen, sondern nach einer vernünftigen, womit die Unterschiede zwischen den Geschlechtern primär als unvernünftig und somit negativ eingestuft werden. Fakt ist aber, dass die Geschlechter gegenseitig von den bestehenden Unterschieden lernen, also profitieren können, was ich mit Hilfe folgender Fixpunkte zu begründen versuche. (Wobei ich mich nur auf die Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Persönlichkeitsmerkmalen beziehe, nicht aber auf die Diskrepanzen der gesellschaftlichen Rollen und deren Status!)


Was man in Männerferien kaum antrifft:


Morgendliche Kommentare über die heutige Kleiderwahl.

Diskussionen, ob man asiatisch oder italienisch Essen geht.
Entwürdigende Worte über Menschen, die alle kennen.
Die Frage: "Wie geht es dir?", es sei denn, man vermutet beim andern einen zünftigen Kater.
Melancholische, "die ganze Welt ist scheisse" - Stimmung.
Ein strukturiertes Programm für den Tag.
Widerstand, weil das Programm geändert wird.
Antrieb vor zehn aus dem Bett zu sein.
Schamgefühl.

Was man bei Frauenferien selten antrifft:


Lachen über einen Witz, der schon hundertmal gefallen ist.
Überhaupt auf so viel Lachen.
Auf so viel Kater.
Entwürdigende Worte über Menschen, die keiner kennt.
Abschätzige Kommentare über das andere Geschlecht.
Auf Notenskalen für das andere Geschlecht.
Melancholische "die ganze Welt ist gegen mich" – Kommentare
Auf Tage, die man im Bett verbringt.
Triumphgefühl.

Die erste Ableitung zeigt folgende Extremalstellen:


Männer brauchen nach den Ferien Ferien, um sich zu erholen.

Frauen benötigen vor den Ferien Ferien, um sich vorzubereiten.

Und den Schnittpunkt finden wir hier:



Frauen haben einen Geltungsdrang vor anderen Männern, Männer ebenso.



Differenzierter betrachtet muss ich anfügen, dass beide Geschlechter mit ihrem Verhalten gegen den Nullpunkt streben, dummerweise die Einen von untern, die Anderen von Oben, wobei dahingestellt sein soll, wer sich von woher diesem Punkt nähert. Paradoxer Fakt ist, dass Männer und Frauen sich genau wegen des gemeinsamen Schnittpunktes niemals treffen, bzw. verstehen werden, denn solange die männliche Dynamik bedingt, dass Männer sich untereinander zu behaupten haben, werden Frauen ihr Geltungsstreben nicht durch die Männer befriedigt bekommen.


(Beispiel gefällig? : Die weibliche Dynamik bedingt, dass nach drei stündiger Beratung, an der sich alle Freundinnen beteiligen, weil sie genau wissen, was dem Freund ihrer Freundin gefällt, denn sie wissen eben alles über ihn, endlich das passende Ferienmitbringsel gefunden wurde, während Männerdynamik bedingt, dass ein Mitbringsel als lasterhafte Verpflichtung angesehen wird, die sich mit der Begrünung "beziehungsverlängernd" zu rechtfertigen hat.)


Aus diesen beiden spezifischen Verhaltensweisen ergäben sich, losgelöst von der ganzen Dynamik in der Gruppe, wertvolle Charaktereigenschaften, sowohl für Mann wie auch für Frau. So scheinen die Beziehungen unter Frauen vertrauter, offener, ehrlicher, emotionaler, unterstützender, weil sie sich voreinander weniger behaupten müssen. Die Beziehungen unter Männern dagegen scheinen belastbarer, unkomplizierter, heiterer, gelassener.


Ich denke, damit könnte man auch begründen, warum Frauen tendenziell früher entwickelt sind als Männer, weil sie sich gegenseitig in ihrer Entwicklung unterstützen, während Männer sich dabei eher hemmen. Durch diesen beinahe Alleingang werden Männer vielleicht aber potentiell auch stärker, emotional weniger angreifbar.


Beides aber, die weibliche emotionale Empfindlichkeit und die männliche geistige Gelassenheit haben ihren Wert.


Emotionale Gelassenheit und geistige Empfindlichkeit heisst der wertvolle Kompromiss.














In diesem Sinne: Danke Jungs für die tollen Ferien, hab euch ins Herz geschlossen. J

Freitag, 22. Januar 2010

Vogelfrei – ein literarischer Versuch

Seinen Hut hängte er an den Kleiderständer, seine Aktentasche warf er mit schonender Wucht darunter, holte sich ein kaltes Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich damit auf den Balkon. Von dort aus beobachtete er, wie er es fast täglich tat, die Vögel, die sich in den Bäumen tummelten und genoss dazu Schluck für Schluck vom kalten Alkohol. An jenem Tag war der Genuss besonders intensiv, denn er wusste, er würde die Vögel zum letzten Mal sehen müssen. Seinen langweiligen Bürojob hatte er, wie seine Aktentasche schonend wuchtig hingeschmissen und war soeben für lange Zeit von der Arbeit nach Hause gekehrt. Von nun an war er frei wie ein Vogel. Den ersten Schritt in seine Unabhängigkeit schenkte ihm vor einigen Monaten seine Frau, indem sie ihm mitteilte, dass sie sich scheiden lassen wolle, weil sie einen anderen, einen besseren Mann, kennen gelernt habe und nun endlich wagte er den zweiten Schritt Richtung Unabhängigkeit und sagte auch seinem Chef, dass er etwas anderes, etwas besseres mit seinem Leben vorhabe. Nichts hielt ihn mehr hier in dieser öden Gegend, seine Gedanken waren schon lange in der Karibik angekommen, die er von den Ferien mit seiner Frau so gut kannte und so sehr liebte und wo er plante das Ende seines Lebens zu leben, statt dieses abzuwarten.

Kurze Zeit später steht er am Flughafen übervoll mit Koffern und Vorfreude bepackt, doch ebenso kurze Zeit später, kaum in der Karibik angekommen, erreichte ihn ein Telegramm, was ihn nicht minder erstaunte, da er keine Erklärung für diese dringende Kontaktaufnahme sah, aber es gab sie.


Worüber er im Telegramm unterrichtet wurde, kann der Leser sich gerne aussuchen, die Möglichkeiten sind zahlreich:

Sein Bruder ist in der Schweiz erkrankt und benötigt eine Nierenspende.

Sein Vater ist verstorben und setzt ihn als rechtmässigen Erben des Familienunternehmens ein.

Seine Frau ist schwanger, das Kind noch von ihm.

Der Beweggrund ist an dieser Stelle unwichtig. Von Belang ist nur, dass seine Erwartung an die Freiheit der Vergangenheit zum Frass vorgeworfen wurde und er ihrem Ruf folgen wird, zurück in seine Heimat, zurück in die Abhängigkeit, die er nie hinter sich gelassen hat, denn er ist vogelfrei.

Diese Geschichte, ist eigentlich meine Geschichte, doch könnte sie ebenso gut zu deiner Geschichte werden, darum steht sie hier. Hätte er weder geliebt, noch wäre er je geliebt worden, könnte diese Geschichte ein sonniges Ende finden, doch ob dies das glücklichere Ende wäre? Open End.