Wahrig oder Duden? Wahrig oder Duden? Wahrig oder… Vor zwei Tagen hatte ich diese Grundsatzentscheidung zu fällen und wie ich solche Probleme zu lösen pflege, um mich nicht durch banale, einmal gefällte Grundsatzentscheidungen einzuengen: Wörterbuch von Wahrig und Rechtschreibung von Duden.
Um meine Sünde, mich meinem selbstauferlegten Bücherkaufverbot widersetzt zu haben, rationalisierend abzuschwächen, entscheide ich mich nach langem hin und her wenigstens für einen Duden ohne CD-ROM: Brauche ich nicht und kann ich auch nicht brauchen, da mein freier Speicherplatz ohnehin vom Aussterben bedroht ist, lautet das Fazit.
Doch damit der Sünde nicht genug. Einen ausgepackten Duden bezahlt, dafür einen zugeschweissten eingepackt, begebe ich mich nach Hause. Dort, den Duden zum Einsatz schon wieder ausgepackt, merke ich: Diese Plastikfolie ist zwanzig Franken wert, denn zwischen ihr und dem Buch versteckt sich doch noch eine CD-ROM! Kurze Freude gefolgt von der unausweichlichen Frage:
Was mache ich nun mit einer CD-ROM - very nice to have – die ich aber weder brauche noch brauchen kann, und nun doch, nachdem ich so lange mit der Kaufentscheidung haderte, weil ich weder Bücher und schon gar nicht CD-ROMs kaufen sollte, (man erinnere sich des letzten Eintrags) und schon überhaupt gar nicht solche, die ich, um mich zu wiederholen: Weder brauche noch brauchen kann, und doch wirklich ‚v e r y nice to have', auf meinen Knien liegt, kostenlos, ja selbst gewissenlos, weil ich bis vor Kurzem ja nicht einmal wusste, dass ich sie habe?? - Oder besser gesagt, geklaut habe.
Behalten oder zurück bringen? Oder behalten und zurück bringen? (Das würde sogar funktionieren!) Wirklich? Oder merkt ‚man' das? Okay.. keine besonders intelligente Idee.
Wem ist das nicht auch schon passiert: Man trifft sich, hört zusammen Musik, packt den Laptop wieder ein und mit ihm die fremde CD. Die Frage, ob sich die Frage stellt, ob man die CD zurück bringt, ist, so glaube ich, überflüssig. (Allenfalls stellt sich die Frage, ob ich sie in diesem Falle tatsächlich behalte und zurück bringe, aber dies nur by the way.)
Aber muss ich auch dem Herrn füssli eine CD wieder bringen, die absolut unbeabsichtigt und unbemerkt zu meinem Eigentum geraten ist? Tue ich damit jemandem weh? Kann man dies überhaupt stehlen nennen?
Das Problem stellt sich durch die Abstraktion, in der wir uns bewegen. Weder die Hersteller noch der Herr füssli und auch nicht die Mitarbeiter haben für mich den Charakter einer realen Person. Sie existieren bloss als abstrakte Grössen in einem Denkkonstrukt und sind bestenfalls lebende Marionetten in einer funktionierenden Struktur. Aber keiner Person liegt diese CD-ROM am Herzen, niemand wird sie tatsächlich als realen Gegenstand vermissen, wie die Person ihre CD in meinem Laptop. Zwar ist die CD-ROM rechtlich betrachtet jemandes Eigentum, doch emotional gesehen nicht. Sie existiert für den Besitzer allenfalls als Zahl in irgendeiner Liste.
Hierzu Erich Fromm in der ‚Pathologie der Normalität': In unserem System ist ein Prozess im Gange, für den ich gerne ein Wort prägen möchte, […] ich möchte vom Prozess der Abstraktion sprechen und verstehe darunter, dass man etwas abstrakt zu machen versucht, statt es in seiner Gegenständlichkeit und Konkretheit zu belassen. Auf Grund unserer Produktionsweise und auf Grund der Art, wie unsere Wirtschaft funktioniert, sind wir es gewohnt, Gegenstände in erster Linie in ihren abstrakten statt in ihren konkret-gegenständlichen Formen wahrzunehmen.
Dies beschränkt sich allerdings nicht nur auf Waren, sondern weitet sich aus auf Menschen: Man vergisst und ignoriert beim Abstrahieren alle seine [des Menschen] konkrete Eigenschaften. Man spricht von ihm als einem Schuhfabrikanten, wie wenn dies sein Sein gewesen wäre.
Ergänzend hierzu folgende Aussage aus ‚Psychoanalyse und Ethik' von E. Fromm: Unser moralisches Problem ist die Gleichgültigkeit des Menschen sich selbst gegenüber. Wir haben den Sinn für die Bedeutung und Einzigartigkeit des Individuums verloren und haben uns zu Werkzeugen für Zwecke gemacht, die ausserhalb unseres Ichs liegen. […] Wir sind zu Gegenständen geworden und auch unsere Nächsten sind für uns Gegenstände. […] Wir haben kein Gewissen im humanistischen Sinn, denn wir wagen uns nicht auf unsere eigene Urteilsfähigkeit zu verlassen.
Diese beiden Ausführungen miteinander verbindend, erhalten wir folgendes Fazit: Da ich die CD-ROM nur als abstrakten Gegenstand aus einem unpersönlichen Warenhaus mitnehme und den Verkäufer nur um den Tauschwert, nicht aber um den Gebrauchswert dieses Gegenstandes bringe - sie damit nicht im emotionalen, sondern wiederum nur im abstrakten Sinne als Besitz bezeichnet werden kann – kann ich sie im humanistischen Sinne auch nicht stehlen und bin somit für den unmoralischen Charakter meiner Handlung emotional unempfänglich. Also kann ich gar nicht anders als die CD-ROM zu behalten! – Würde es nicht all diese Überlegungen nach sich ziehen und hätte ich den Duden nicht gebraucht, um an meinen Texten für den Förderverein Weltethos zu arbeiten, dann hätte ich vielleicht wirklich nicht anders gekonnt, als sie zu behalten.
Zurück bleibt ein Duden, freier Speicherplatz, die Frage, ob nun ein Weltethos das Potenzial in sich birgt, den Menschen aus dieser Entfremdung zu führen oder ob der vorgängige Weg aus der Entfremdung die unausweichliche Voraussetzung für ein humanistisches und nicht autoritär funktionierendes Weltethos ist, und die Feststellung, mich beim nächsten Mal besser für zweimal Wahrig zu entscheiden, dann wäre mir all dies erspart geblieben.