Samstag, 14. August 2010

Wie viel kostet eine Plastikfolie?

Wahrig oder Duden? Wahrig oder Duden? Wahrig oder… Vor zwei Tagen hatte ich diese Grundsatzentscheidung zu fällen und wie ich solche Probleme zu lösen pflege, um mich nicht durch banale, einmal gefällte Grundsatzentscheidungen einzuengen: Wörterbuch von Wahrig und Rechtschreibung von Duden.
Um meine Sünde, mich meinem selbstauferlegten Bücherkaufverbot widersetzt zu haben, rationalisierend abzuschwächen, entscheide ich mich nach langem hin und her wenigstens für einen Duden ohne CD-ROM: Brauche ich nicht und kann ich auch nicht brauchen, da mein freier Speicherplatz ohnehin vom Aussterben bedroht ist, lautet das Fazit.

Doch damit der Sünde nicht genug. Einen ausgepackten Duden bezahlt, dafür einen zugeschweissten eingepackt, begebe ich mich nach Hause. Dort, den Duden zum Einsatz schon wieder ausgepackt, merke ich: Diese Plastikfolie ist zwanzig Franken wert, denn zwischen ihr und dem Buch versteckt sich doch noch eine CD-ROM! Kurze Freude gefolgt von der unausweichlichen Frage:

Was mache ich nun mit einer CD-ROM - very nice to have – die ich aber weder brauche noch brauchen kann, und nun doch, nachdem ich so lange mit der Kaufentscheidung haderte, weil ich weder Bücher und schon gar nicht CD-ROMs kaufen sollte, (man erinnere sich des letzten Eintrags) und schon überhaupt gar nicht solche, die ich, um mich zu wiederholen: Weder brauche noch brauchen kann, und doch wirklich ‚v e r y nice to have', auf meinen Knien liegt, kostenlos, ja selbst gewissenlos, weil ich bis vor Kurzem ja nicht einmal wusste, dass ich sie habe?? - Oder besser gesagt, geklaut habe.

Behalten oder zurück bringen? Oder behalten und zurück bringen? (Das würde sogar funktionieren!) Wirklich? Oder merkt ‚man' das? Okay.. keine besonders intelligente Idee.

Wem ist das nicht auch schon passiert: Man trifft sich, hört zusammen Musik, packt den Laptop wieder ein und mit ihm die fremde CD. Die Frage, ob sich die Frage stellt, ob man die CD zurück bringt, ist, so glaube ich, überflüssig. (Allenfalls stellt sich die Frage, ob ich sie in diesem Falle tatsächlich behalte und zurück bringe, aber dies nur by the way.)

Aber muss ich auch dem Herrn füssli eine CD wieder bringen, die absolut unbeabsichtigt und unbemerkt zu meinem Eigentum geraten ist? Tue ich damit jemandem weh? Kann man dies überhaupt stehlen nennen?

Das Problem stellt sich durch die Abstraktion, in der wir uns bewegen. Weder die Hersteller noch der Herr füssli und auch nicht die Mitarbeiter haben für mich den Charakter einer realen Person. Sie existieren bloss als abstrakte Grössen in einem Denkkonstrukt und sind bestenfalls lebende Marionetten in einer funktionierenden Struktur. Aber keiner Person liegt diese CD-ROM am Herzen, niemand wird sie tatsächlich als realen Gegenstand vermissen, wie die Person ihre CD in meinem Laptop. Zwar ist die CD-ROM rechtlich betrachtet jemandes Eigentum, doch emotional gesehen nicht. Sie existiert für den Besitzer allenfalls als Zahl in irgendeiner Liste.

Hierzu Erich Fromm in der ‚Pathologie der Normalität': In unserem System ist ein Prozess im Gange, für den ich gerne ein Wort prägen möchte, […] ich möchte vom Prozess der Abstraktion sprechen und verstehe darunter, dass man etwas abstrakt zu machen versucht, statt es in seiner Gegenständlichkeit und Konkretheit zu belassen. Auf Grund unserer Produktionsweise und auf Grund der Art, wie unsere Wirtschaft funktioniert, sind wir es gewohnt, Gegenstände in erster Linie in ihren abstrakten statt in ihren konkret-gegenständlichen Formen wahrzunehmen.

Dies beschränkt sich allerdings nicht nur auf Waren, sondern weitet sich aus auf Menschen: Man vergisst und ignoriert beim Abstrahieren alle seine [des Menschen] konkrete Eigenschaften. Man spricht von ihm als einem Schuhfabrikanten, wie wenn dies sein Sein gewesen wäre.

Ergänzend hierzu folgende Aussage aus ‚Psychoanalyse und Ethik' von E. Fromm: Unser moralisches Problem ist die Gleichgültigkeit des Menschen sich selbst gegenüber. Wir haben den Sinn für die Bedeutung und Einzigartigkeit des Individuums verloren und haben uns zu Werkzeugen für Zwecke gemacht, die ausserhalb unseres Ichs liegen. […] Wir sind zu Gegenständen geworden und auch unsere Nächsten sind für uns Gegenstände. […] Wir haben kein Gewissen im humanistischen Sinn, denn wir wagen uns nicht auf unsere eigene Urteilsfähigkeit zu verlassen.

Diese beiden Ausführungen miteinander verbindend, erhalten wir folgendes Fazit: Da ich die CD-ROM nur als abstrakten Gegenstand aus einem unpersönlichen Warenhaus mitnehme und den Verkäufer nur um den Tauschwert, nicht aber um den Gebrauchswert dieses Gegenstandes bringe - sie damit nicht im emotionalen, sondern wiederum nur im abstrakten Sinne als Besitz bezeichnet werden kann – kann ich sie im humanistischen Sinne auch nicht stehlen und bin somit für den unmoralischen Charakter meiner Handlung emotional unempfänglich. Also kann ich gar nicht anders als die CD-ROM zu behalten! – Würde es nicht all diese Überlegungen nach sich ziehen und hätte ich den Duden nicht gebraucht, um an meinen Texten für den Förderverein Weltethos zu arbeiten, dann hätte ich vielleicht wirklich nicht anders gekonnt, als sie zu behalten.


Zurück bleibt ein Duden, freier Speicherplatz, die Frage, ob nun ein Weltethos das Potenzial in sich birgt, den Menschen aus dieser Entfremdung zu führen oder ob der vorgängige Weg aus der Entfremdung die unausweichliche Voraussetzung für ein humanistisches und nicht autoritär funktionierendes Weltethos ist, und die Feststellung, mich beim nächsten Mal besser für zweimal Wahrig zu entscheiden, dann wäre mir all dies erspart geblieben.

Sonntag, 1. August 2010

Flucht aus der Langeweile

Das Bestehen meines Blogs jährt sich und damit auch das Ereignis, das mich vor einem Jahr zum Start dieses Weblogs bewegte: der Erste August und mein jährlicher Feuerwerksverkauf. Schon wieder habe ich mich gezwungen, mir die Beine in den Bauch zu stehen und in der Langeweile auszuharren, um mein letzes Feriengeld zu verdienen. Vieles hat sich seither nicht geändert: Mein Unvermögen am ästhetischen Sinn von Feuerwerk teilzuhaben, die Ausreden dafür, warum familie eben doch Feuerwerk kauft und die Rechtfertigungen warum sie es nicht tut. Auch nicht der Grad der Langeweile, deren beinahe pathologischen Charakter mir erst nach der Lektüre von Erich Fromms Publikation über die Pathologie der Normalität bewusst wurde (Das Leben hört auf, im wahren Sinne belebt zu sein. Langeweile ist meiner Meinung nach eines der grössten Übel, die den Menschen befallen können.). In dieser einen Woche ertrage ich so viel Langeweile, wie sonst während dem ganzen Jahr nicht. Alle Warnhinweise der Feuerwerkskörper kenne ich auswendig, ebenfalls das ganze Gartenartikel Sortiment, die Giftklasse jedes Spritzmittels, die Anzahl der Kacheln auf dem Boden, bis jeder Gedanke, selbst die kleinste Regung im Kopf, verstummt… Und vor allem bekomme ich auch die volle Ladung Langeweile der Leute ab, die nicht nur eine Woche, sondern wie sich vermuten lässt, den Hauptteil ihres Lebens mit eben dieser in trauter Zweisamkeit verbringen. Die anhaltende pathologische Form der Langeweile eben. Menschen, die ihr Leben dem täglichen Einkauf widmen, ihre sozialen Beziehungen auf die Gespräche mit der deutschen Kioskverkäuferin bauen und dann, in dieser Stimmung mich erblicken -das verlorene, unterbeschäftigte Migrosmädchen, das dazu verdammt wurde, die gefährlichen Knallkörper vor den bösen Rauchern zu beschützen- und die Gelegenheit ergreifen. Eine Kostprobe will ich nicht vorenthalten:


"Wenn Sie jung sind, können Sie die Welt erobern! Sie gehört Ihnen ganz allein!" Sie, die Kundin von der ich aus Kassierinnenzeiten einzig weiss, dass Pouletschenkel ihre Leibspeise sind, erzählt mir, wie sie ihr Leben nebst dem Kochen füllt. Sie sei alt, alles sei für sie zum Stress geworden, immer wieder betont sie, wie verbraucht sie sei, unglaublich verbraucht von der täglichen Arbeit zwischen Sonnenauf- und Sonnenuntergang, neununddreissig Jahre lang habe sie sich verbraucht. A l l e s an ihr sei verbraucht. Termine: Stress; Einkaufen: Stress; selbst Ferien: Stress! "Geniessen Sie die jungen Jahre!", holt sie noch einmal aus, um mich gleich anschliessend zu fragen, was ich machen werde, nachdem ich ihr von meinem Final hier in der Migros und meinem Umzug erzählt habe. "Ah, das ist toll!" Ist ihre Reaktion, ihre Augen glänzen, vor Altersneid, so scheint mir und ihre Worte bestätigen es sogleich: "Wenn Sie jung sind, können Sie die Welt erobern!" Es sei eine typische Alterskrankheit, in jungen Jahren habe sie nie Probleme mit Stress gehabt, "aber jetzt", sie schüttelt bekümmert den Kopf, "aber jetzt", wiederholt sie um darauf vom eigenen Schweigen geschluckt zu werden, "ist sie verbraucht" beende ich ihre Worte in Gedanken. Froh sei sie, dass sie und ihre Katze gesund seien, ergänzt sie und findet in ein selbstbestärkendes Lächeln zurück. "Gesund?!!", versuche ich mich zu beherrschen, dies nur zu denken und boxe meine Gedanken in eine angebrachte Richtung: "Ja die Gesundheit ist das Wichtigste." Sie geht ab, verschwindet in der Drehtür, die sie in den Laden schleust und lässt mich zurück mit der Präsenz einer Grundfrage, die mich nun schon seit einigen Jahren begleitet:


Macht unsere Gesellschaft uns Alterskrank? Nicht das Leben, Krankheit, Tod, missglückte Beziehungen (laut Freud alles äussere Kräfte, die den Menschen für immer am wahren Glück hindern) sondern die Arbeit ist es, die sie verbraucht hat, die Arbeit -unser selbstgewähltes Los.

Ja, selbstgewählt.

Unsere Gesellschaft funktioniert, dank uns.

Auch dies kann ganz leicht von meinem Plätzchen hinter den explosiven Knallkörpern beobachtet werden: Ein zierliches blondes Mädchen entdeckt die riesigen Vulkane, wobei ihre Augen innert Sekunden auf dieselbe Grösse anwachsen und vor Freude Feuer speien. Ihre Mutter erblickt die Gefahr, läuft schnurgerade auf die Hand ihrer Tochter zu und versucht sie, mit dem wartenden Einkauf lockend, weg zu zehren. Doch die Tochter ist schlauer, sie sieht das grosse "A-Wort" von orangeleuchtender Farbe umrandet: "Aber Mami, es isch aktion!, Häsch gseh, aktion, Maaaamiii!" Schliesslich wurden zwei Packungen von vier leuchtenden Augen nach Hause getragen.
Dank Aktion mit Cumuluspunkten versüsst scheint es plötzlich lohnenswert die letzen Tage Arbeit in Rauch aufgehen zu lassen. ("Ja natürlich gibt es auf Feuerwerk auch Märkli, wenn sie möchten!") (Und ja natürlich waren es wieder dieselben Aktionen wie in den Jahren zuvor.)

Was ich damit sagen will: Dies alles ist ein subtiler Ausdruck hiervon:

Erich Fromm zu folgen, existiert eine Art Gesellschaftscharakter, der die psychischen Energien der Individuen in eine bestimmte Richtung lenkt oder kurz, dafür sorgt, dass die Menschen das tun wollen, was sie tun müssen.

Selbstverständlich wird am Ersten August die Schweiz ordentlich gefeiert und selbstverständlich wird am zweiten August wieder pünktlich zur Arbeit erschienen. Selbstverständlich selbstgewählt! Wir sind alle absolut funktionierende Glieder dieser Gesellschaft. Wir sind alle sowas von normal! Wir funktionieren! Es fragt sich nur zu welchem Preis? Natürlich zum Aktionspreis!

Die alte Frau, als die sie sich selbst bezeichnet hat, kehrt nach einigen Minuten aus dem Laden zurück mit einem Zvieri für mich. Zwei grosse weisse, mit Kassenzettel bestückte Pfirsiche, wie es sich fürs Personal gehört. Sie bedankt sich fürs Gespräch und nachdem sie sich vergewissert hat, mich nicht zum letzten Mal gesehen zu haben, verabschiedet sie sich mit einem freundschaftlichen "bis bald."

Diesen Tag habe ich ihr gerettet, sie etwas aus ihrer Langeweile geholt und diesen Tag hat auch sie mir gerettet, weil ich den Rest des Nachmittags damit verbrachte, diesen längst überfälligen Blogbeitrag auf Kassenzettel (siehe Bild) zu notieren. Wenn wir nicht mehr funktionieren, funktioniert es dann doch noch irgendwie.




Aber solange wir funktionieren, werden wir uns noch vielmals überwinden uns zehn Stunden am Tag mit langweiligem Feuerwerkverkauf zu quälen, ohne dabei irgendwelche moralischen Zuckungen zu machen. Und zu welchem Preis: Natürlich auch das zum Aktionspreis! Denn viel mehr werde ich die Migros kaum kosten.


Nun ja, allerdings nicht mehr lange. Gestern, Samstag, als der letze Vulkan seinem ehrenwerten Besitzer verkauft wurde, machte ich endgültig einen Abgang aus der Migrosarbeit, bei der meine Hirnzellen manchmal wörtlichst den Geist aufgegeben haben. Übrigens hat mir ein Kunde am letzten Tag, als ich ihn nach der wohlbekannten Karte fragte, mit seiner Bemerkung, die treffender nicht sein könnte, einen tollen Abschied beschert, den ich nicht vorenthalten kann: "Cumuluskarte? Natürlich habe ich eine Cumuluskarte, jeder in der Schweiz hat eine, wahrscheinlich haben hier mehr Menschen eine Cumuluskarte als einen Schweizerpass!" Danke. Bin gespannt wie lange ich in dieser Gesellschaft ohne Charakter was zu essen kriege.