Sonntag, 1. August 2010

Flucht aus der Langeweile

Das Bestehen meines Blogs jährt sich und damit auch das Ereignis, das mich vor einem Jahr zum Start dieses Weblogs bewegte: der Erste August und mein jährlicher Feuerwerksverkauf. Schon wieder habe ich mich gezwungen, mir die Beine in den Bauch zu stehen und in der Langeweile auszuharren, um mein letzes Feriengeld zu verdienen. Vieles hat sich seither nicht geändert: Mein Unvermögen am ästhetischen Sinn von Feuerwerk teilzuhaben, die Ausreden dafür, warum familie eben doch Feuerwerk kauft und die Rechtfertigungen warum sie es nicht tut. Auch nicht der Grad der Langeweile, deren beinahe pathologischen Charakter mir erst nach der Lektüre von Erich Fromms Publikation über die Pathologie der Normalität bewusst wurde (Das Leben hört auf, im wahren Sinne belebt zu sein. Langeweile ist meiner Meinung nach eines der grössten Übel, die den Menschen befallen können.). In dieser einen Woche ertrage ich so viel Langeweile, wie sonst während dem ganzen Jahr nicht. Alle Warnhinweise der Feuerwerkskörper kenne ich auswendig, ebenfalls das ganze Gartenartikel Sortiment, die Giftklasse jedes Spritzmittels, die Anzahl der Kacheln auf dem Boden, bis jeder Gedanke, selbst die kleinste Regung im Kopf, verstummt… Und vor allem bekomme ich auch die volle Ladung Langeweile der Leute ab, die nicht nur eine Woche, sondern wie sich vermuten lässt, den Hauptteil ihres Lebens mit eben dieser in trauter Zweisamkeit verbringen. Die anhaltende pathologische Form der Langeweile eben. Menschen, die ihr Leben dem täglichen Einkauf widmen, ihre sozialen Beziehungen auf die Gespräche mit der deutschen Kioskverkäuferin bauen und dann, in dieser Stimmung mich erblicken -das verlorene, unterbeschäftigte Migrosmädchen, das dazu verdammt wurde, die gefährlichen Knallkörper vor den bösen Rauchern zu beschützen- und die Gelegenheit ergreifen. Eine Kostprobe will ich nicht vorenthalten:


"Wenn Sie jung sind, können Sie die Welt erobern! Sie gehört Ihnen ganz allein!" Sie, die Kundin von der ich aus Kassierinnenzeiten einzig weiss, dass Pouletschenkel ihre Leibspeise sind, erzählt mir, wie sie ihr Leben nebst dem Kochen füllt. Sie sei alt, alles sei für sie zum Stress geworden, immer wieder betont sie, wie verbraucht sie sei, unglaublich verbraucht von der täglichen Arbeit zwischen Sonnenauf- und Sonnenuntergang, neununddreissig Jahre lang habe sie sich verbraucht. A l l e s an ihr sei verbraucht. Termine: Stress; Einkaufen: Stress; selbst Ferien: Stress! "Geniessen Sie die jungen Jahre!", holt sie noch einmal aus, um mich gleich anschliessend zu fragen, was ich machen werde, nachdem ich ihr von meinem Final hier in der Migros und meinem Umzug erzählt habe. "Ah, das ist toll!" Ist ihre Reaktion, ihre Augen glänzen, vor Altersneid, so scheint mir und ihre Worte bestätigen es sogleich: "Wenn Sie jung sind, können Sie die Welt erobern!" Es sei eine typische Alterskrankheit, in jungen Jahren habe sie nie Probleme mit Stress gehabt, "aber jetzt", sie schüttelt bekümmert den Kopf, "aber jetzt", wiederholt sie um darauf vom eigenen Schweigen geschluckt zu werden, "ist sie verbraucht" beende ich ihre Worte in Gedanken. Froh sei sie, dass sie und ihre Katze gesund seien, ergänzt sie und findet in ein selbstbestärkendes Lächeln zurück. "Gesund?!!", versuche ich mich zu beherrschen, dies nur zu denken und boxe meine Gedanken in eine angebrachte Richtung: "Ja die Gesundheit ist das Wichtigste." Sie geht ab, verschwindet in der Drehtür, die sie in den Laden schleust und lässt mich zurück mit der Präsenz einer Grundfrage, die mich nun schon seit einigen Jahren begleitet:


Macht unsere Gesellschaft uns Alterskrank? Nicht das Leben, Krankheit, Tod, missglückte Beziehungen (laut Freud alles äussere Kräfte, die den Menschen für immer am wahren Glück hindern) sondern die Arbeit ist es, die sie verbraucht hat, die Arbeit -unser selbstgewähltes Los.

Ja, selbstgewählt.

Unsere Gesellschaft funktioniert, dank uns.

Auch dies kann ganz leicht von meinem Plätzchen hinter den explosiven Knallkörpern beobachtet werden: Ein zierliches blondes Mädchen entdeckt die riesigen Vulkane, wobei ihre Augen innert Sekunden auf dieselbe Grösse anwachsen und vor Freude Feuer speien. Ihre Mutter erblickt die Gefahr, läuft schnurgerade auf die Hand ihrer Tochter zu und versucht sie, mit dem wartenden Einkauf lockend, weg zu zehren. Doch die Tochter ist schlauer, sie sieht das grosse "A-Wort" von orangeleuchtender Farbe umrandet: "Aber Mami, es isch aktion!, Häsch gseh, aktion, Maaaamiii!" Schliesslich wurden zwei Packungen von vier leuchtenden Augen nach Hause getragen.
Dank Aktion mit Cumuluspunkten versüsst scheint es plötzlich lohnenswert die letzen Tage Arbeit in Rauch aufgehen zu lassen. ("Ja natürlich gibt es auf Feuerwerk auch Märkli, wenn sie möchten!") (Und ja natürlich waren es wieder dieselben Aktionen wie in den Jahren zuvor.)

Was ich damit sagen will: Dies alles ist ein subtiler Ausdruck hiervon:

Erich Fromm zu folgen, existiert eine Art Gesellschaftscharakter, der die psychischen Energien der Individuen in eine bestimmte Richtung lenkt oder kurz, dafür sorgt, dass die Menschen das tun wollen, was sie tun müssen.

Selbstverständlich wird am Ersten August die Schweiz ordentlich gefeiert und selbstverständlich wird am zweiten August wieder pünktlich zur Arbeit erschienen. Selbstverständlich selbstgewählt! Wir sind alle absolut funktionierende Glieder dieser Gesellschaft. Wir sind alle sowas von normal! Wir funktionieren! Es fragt sich nur zu welchem Preis? Natürlich zum Aktionspreis!

Die alte Frau, als die sie sich selbst bezeichnet hat, kehrt nach einigen Minuten aus dem Laden zurück mit einem Zvieri für mich. Zwei grosse weisse, mit Kassenzettel bestückte Pfirsiche, wie es sich fürs Personal gehört. Sie bedankt sich fürs Gespräch und nachdem sie sich vergewissert hat, mich nicht zum letzten Mal gesehen zu haben, verabschiedet sie sich mit einem freundschaftlichen "bis bald."

Diesen Tag habe ich ihr gerettet, sie etwas aus ihrer Langeweile geholt und diesen Tag hat auch sie mir gerettet, weil ich den Rest des Nachmittags damit verbrachte, diesen längst überfälligen Blogbeitrag auf Kassenzettel (siehe Bild) zu notieren. Wenn wir nicht mehr funktionieren, funktioniert es dann doch noch irgendwie.




Aber solange wir funktionieren, werden wir uns noch vielmals überwinden uns zehn Stunden am Tag mit langweiligem Feuerwerkverkauf zu quälen, ohne dabei irgendwelche moralischen Zuckungen zu machen. Und zu welchem Preis: Natürlich auch das zum Aktionspreis! Denn viel mehr werde ich die Migros kaum kosten.


Nun ja, allerdings nicht mehr lange. Gestern, Samstag, als der letze Vulkan seinem ehrenwerten Besitzer verkauft wurde, machte ich endgültig einen Abgang aus der Migrosarbeit, bei der meine Hirnzellen manchmal wörtlichst den Geist aufgegeben haben. Übrigens hat mir ein Kunde am letzten Tag, als ich ihn nach der wohlbekannten Karte fragte, mit seiner Bemerkung, die treffender nicht sein könnte, einen tollen Abschied beschert, den ich nicht vorenthalten kann: "Cumuluskarte? Natürlich habe ich eine Cumuluskarte, jeder in der Schweiz hat eine, wahrscheinlich haben hier mehr Menschen eine Cumuluskarte als einen Schweizerpass!" Danke. Bin gespannt wie lange ich in dieser Gesellschaft ohne Charakter was zu essen kriege.

2 Kommentare:

  1. Danke für diesen Text - und ja, ich hoffe auch, es gibt für dich was zu essen.
    Als Ergänzung/Kontrast Genazinos Rede zur Langeweile: http://www.spiegel.de/kultur/literatur/0,1518,324658,00.html

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  2. Danke für diesen Kommentar und den Kontrast. Zwei vollkommen gegensätzliche Zustände (nicht allein der Umgang damit) und nur ein Wort.

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