Samstag, 22. Januar 2011

Menschen brauchen keine sozialen Prothesen

«Der Mensch ist sozusagen eine Art Prothesengott[…]», so Sigmund Freud in Das Unbehagen der Kultur über das Wesen des Menschen. Von sich aus kann der Mensch so gut wie nichts. Doch aus diesen Mängeln hat sich beim Menschen eine Idealvorstellung von Allmacht und Allwissenheit gebildet, jener der Mensch mit jedem technischen Fortschritt näher zu kommen versucht. Werkzeuge, Waffen oder Transportmittel helfen uns über unsere physischen Schwächen hinweg. Sie verleihen uns die Geschicklichkeit eines Vogels im Nestbau, die Kraft eines Bären und die Geschwindigkeit eines Geparden. Doch längst sind wir darüber hinaus, uns an den Tieren zu messen und haben es geschafft, die Fähigkeiten jeden Tieres um ein Vielfaches zu übertreffen. Mit dem Computer übertreffen wir sogar unsere Denkfähigkeit um Längen.
Die Dampfmaschine als prothesenartige Überwindung unserer Mängel anzusehen leuchtet ein, doch diese mit Facebook in einen Topf zu werfen, scheint vorschnell. Allerdings gibt es meines Erachtens nach gleich drei Zugänge, die eine solche Analogie begründen können.

1. Von der Begriffsentwicklung  aus: 
Der Begriff Technik bedeutete in seinem griechischen Ursprung «techne» so viel wie «Kunst», «Fertigkeit» oder auch «die Kunstfertigkeit etwas Bestimmtes zu erreichen.», so der Brockhaus. Heute allerdings wird unter technischem Vermögen gemeinhin jenes Vermögen verstanden, das ausserhalb des Menschen liegt und das die menschlichen Fähigkeiten auf allen Ebenen übertrumpft. Wenn das Web unter den Sammelbegriff Technik fällt, kann also auch von Facebook gesagt werden, dass es, abstrakt gesehen, eine Erweiterung der menschlichen Fähigkeiten darstellt.

2. Aus der Sichtweise der Mediengeschichte:
Auch der Blickwinkel der Mediengeschichte lässt einen solchen Vergleich zu: Das Buch war die Erweiterung des menschlichen Gedächtnisses, der Fernseher diejenige des menschlichen Auges, das Telefon die unseres Ohrs , der Computer die unserer Denkfähigkeit. Die Entwicklung neuer Medien orientiert sich stets an den menschlichen Fähigkeiten und vor allem an deren Begrenztheit. Sie entstehen nicht aus dem Nichts, sondern ihnen liegt der Mensch als mangelhafte Vorlage zugrunde, die es zu optimieren gilt.

3.   Von der psychoanalytischen Sicht Freuds aus:
Das Streben des Menschen sich selbst zu einem (Prothesen)Gott zu erheben, entwickelt sich in der freudschen Theorie aus unserer stetigen Flucht vor Leid. Diese Flucht dient dem Menschen als Ersatz für das (eigentlich ersehnte) Streben nach Glück, das, so Freud, nicht im Plan der Schöpfung enthalten war. Denn es gibt drei unüberwindbare Leidensquellen für die psychische Konstitution des Menschen, die ihm das Glück verunmöglichen: Die Übermacht der Natur, die Hinfälligkeit unseres eigenen Körpers und – man staune – Beziehungen zu den anderen Menschen. So entwickelte der Mensch Seismographen zur Vorhersage von  tödlichen Erdbeben, Chemotherapien zur Behandlung von tödlichem Krebs und Facebook zur Kontrolle (tödlicher) zwischenmenschlicher Beziehungen.
Ich möchte mit Freuds Worten selbst zeigen, dass es nicht ganz so abwegig ist, Facebook und die Chemotherapie in eine Reihe zu stellen, wie er auf den ersten Blick scheint: «Ferne Zeiten werden neue, wahrscheinlich unvorstellbar grosse [oder andere?] Fortschritte auf dem Gebiete der Kultur mit sich bringen, die [die] Gottähnlichkeit noch weiter steigern.»

Wird Facebook damit zu einer Technik, die unsere soziale Kunstfertigkeit erweitert? Ein Medium, das eine mangelhafte Vorlage zu optimieren vermag? Zur Flucht vor unausweichlichem Unglück?

Alle drei Fragen sind potentiell mit einem Ja zu beantworten. Doch die Erkenntnis der Analogie allein lässt noch lange keine Wertung zu. Ob die menschliche Fähigkeit seine Mängel durch Hilfsmittel selbst zu beheben (in dem Sinne: Kultur zu schaffen) den Menschen nun zum freudschen unglücklichen Prothesengott oder zum glücklichen Prometheus von Gehlen werden lässt, ist ein altbekannter Streit, der in der Kulturwissenschaft und in der Philosophie geführt wird. 

Ein kurzer Vergleich soll zeigen, dass es sich lohnt diese Frage für das Web 2.0, hier spezifisch Facebook, erneut aufzugreifen und ernsthaft zu diskutieren, denn wir bewegen uns in einer vollkommen neuen Entwicklung:
Der Alltag lehrt uns, wer Auto fährt, wird faul, wer zu oft den Taschenrechner benutzt, verlernt das Kopfrechnen, wer nur mit Mikrowelle kocht, vergisst wie man Feuer macht. Durch die Hilfe von Technik, die ausserhalb des Menschen liegt leiden unsere eigenen inneren Fähigkeiten, sie verkrüppeln und verstümmeln.  Was geschieht, wenn nun FB zur Hilfe unserer sozialen Fähigkeiten wird? Wenn mehrheitlich noch über FB kommuniziert wird? Wenn wir nur noch dank FB an Geburtstage denken, uns getrauen neue Menschen anzusprechen, uns über Statusmeldungen statt über Gespräche updaten?
Beim Gebrauch eines Taschenrechners kann man einwenden, dass unser Kopfrechnen zwar unter dem Gebrauch leidet, dass er uns aber zugleich viele weitere Möglichkeiten eröffnet, die uns wiederum fordern und unser eigenes Denken verlangen. Doch funktioniert diese Kompensation bei sozialen Plattformen auch? Und was, wenn die Plattform uns damit Möglichkeiten für soziale Beziehungen eröffnet, die unsere Kompetenzen übersteigen?

Um all diese Fragen soll es in den folgenden Beiträgen gehen. Auf einige von ihnen habe ich zur Zeit noch selber keine klar begründete Antwort. Doch gewiss ist, dass allein die Tatsache, dass der Mensch sich Techniken erschafft, die der Erweiterung seiner sozialen Kompetenzen dienen, ein neues Menschenbild aufkommen lässt. Das Bild eines Menschen, der nicht genügend fähig ist, soziale Beziehungen zu führen, nicht stark genug, Konflikte auszutragen, nicht mutig genug, den Verwirrungen der zwischenmenschlichen Beziehungen zu begegnen. Menschen, die nicht genügsam sind mit den Menschen um sich herum. 

«Facebook macht vieles einfacher!» – Vielleicht zu einfach.
Wollen wir tatsächlich Menschen sein, die «social technics» der sozialen «techne» vorziehen? Vielleicht die letzte «techne», die letzte Kunstfertigkeit, die uns geblieben ist? Was aber ist er dann noch «der Mensch»?
Nach zwei Jahren schlechten Bauchgefühls und etlichen Überlegungen bin ich zum Schluss gekommen, dass 

  1. Ich kein solches Menschenbild mit mir herum tragen will. 
  2. Wir zu wenig bis gar nichts durch die soziale Plattform gewinnen.  
  3. Durch FB zu viel verloren, verlernt oder sogar verkrüppelt wird. 
Der erste Punkt ist eine Glaubensfrage. Darüber möchte ich nicht streiten. Die anderen beiden Behauptungen versuche ich so verständlich als möglich und damit so übertrieben wie nötig in den folgenden Beiträgen zu illustrieren und zu begründen. Der erste Beitrag «Beziehungskisten» soll morgen folgen.

1 Kommentar:

  1. Hei Cousine, impressive. Ich bleib dran und kuck was noch kommt :) Greets Daniel

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